31. März – 16. Juni
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JÜRGEN KRUSCHE
SPURENSICHERUNG – STADTFORSCHUNG AN DER SCHNITTSTELLE ZUR KUNST
Jürgen Krusche ist Künstler und Stadtforscher. Nach seiner Ausbildung als Musiker widmete er sich verstärkt der bildenden Kunst und ist seit 2001 an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) am Institut für Gegenwartskunst (IFCAR) tätig (www.ifcar.ch).
Seine Forschungs- und Lehrtätigkeiten siedeln sich im Bereich der kulturwissenschaftlichen Stadtforschung an, mit besonderem Fokus auf das Thema der «Offenen Stadt». Weitere Arbeitsfelder sind bildbasierte Forschungsmethoden sowie der Vergleich zwischen ostasiatischen und westlichen Stadt- und Raumkonzepten, insbesondere der öffentlichen Räume. Er arbeitete u.a. in Tokyo und Shanghai, Berlin und Belgrad, zuletzt an einem Projekt in Hong Kong (www.shamshuipo-deepwater.com). Seine künstlerische Arbeit ist eng verwoben mit seiner forschenden Tätigkeit und kann als «künstlerische Ethnographie» verstanden werden. Seit 1985 ist er als Künstler tätig mit Ausstellungen in der Schweiz, Deutschland, Österreich und Japan. Er lebt und arbeitet in Zürich und Hannover.
Neueste Publikationen:
2017 Die Ambivalente Stadt. Gegenwart und Zukunft des öffentlichen Raums, JOVIS Verlag, Berlin www.jovis.de/de/buecher/details/product/die_ambivalente_stadt.html
2018 Deep Water. Public Spaces in Sham Shui Po, Hong Kong, MCCM Creations, Hong Kong
www.mccmcreations.com/deep-water
Spurensicherung – Stadtforschung an der Schnittstelle zur Kunst
Bericht über ein Gespräch mit Jürgen Krusche, Schaffhausen, 6. März 2019
von Cornelia Wolf
Als Stadtforscher ist Jürgen Krusche viel unterwegs. Er beobachtet, analysiert, dokumentiert und vergleicht die Nutzung öffentlicher Räume. Weltweit begibt er sich auf „visual ethnographic expeditions“ (visuelle ethnographische Expeditionen) und zieht daraus Schlüsse über die sozialen, politischen, kulturellen Ausprägungen und Veränderungen einer Gesellschaft. Die Kamera dient ihm dabei als wichtiges Instrument. Im Rahmen seiner Forschung sind unzählige Projekte entstanden, die sich immer öfter an der Schnittstelle zwischen Forschung und Kunst bewegen. „Ob das nun Kunst ist oder Ethnographie kann man nicht mehr unterscheiden“, stellt Krusche fest. „Im letzten Projekt in Hong Kong sind die Arbeiten viel freier geworden. Die Kunst ist ja oft auch forschend. Das kann und muss man nicht unterscheiden. Wichtiger ist, das gemeinsame Feld aufzuzeigen und dort zu arbeiten.“
Drei Projekte stehen in Jürgen Krusches aktuellem Fokus:
Deep Water – Die Strassen von Sham Shui Po
Von Krusches ethnographischer Expedition in den Strassen von Sham Shui Po, einem alten und traditionellen Distrikt in Hong Kong, sind es zwei Fotoarbeiten aus dem Buch „Deep Water – Public Spaces in Sham Shui Po, Hong Kong“, auf die er besonders hinweist: „All belongings of a street sleeper“ (Alle Besitztümer eines Obdachlosen): Wasserflasche, Schlafmatte, Shampoo und Seifenspender, ein Handtuch und ein paar Kleidungsstücke, Plastiksäcke und zwei karierte Jumbo-Einkaufstaschen als Behälter. Das ist, was Herr Chen besitzt. Er lebt in einem Park in Sham Shui Po und hat all seine Habseligkeiten fein säuberlich nebeneinander gelegt. Ist Herr Chen unterwegs, versteckt er die beiden Jumbo-Taschen in einem Busch. Dieses letzte Bild der Serie fasst das – jedenfalls für uns als solches wahrgenommene – Elend von Herrn Chens Existenz auf berührende Weise zusammen. (Abb.1)
Ebenfalls im Buch sind Bilder einer Aufreihung von etwa 50 Gegenständen, die dicht hintereinander auf einem Gehsteig liegen. Steine, ein Schirm, Papierschnitzel, Karton, ein Stuhl – es dauerte eine Weile, bis Krusche den Sinn in dieser Ordnung erkannte: die Objekte dienen als Platzhalter für Menschen, die ihren Platz in der Schlange vor einer gratis Essensausgabe reservieren. „Um 15 Uhr geht jeder an seinen Platz, ohne Gedränge. Das Ganze ist eine Auslegeordnung wie Herrn Chens Gegenstände, nur, dass jedes Ding hier einen Menschen repräsentiert.“ (Abb.2)
Negentropische Skulpturen oder Ordnung auf Zeit
Ein weiteres Projekt sind Krusches „Negentropic Sculptures“, eine Serie von Interventionen im öffentlichen Raum, von denen seit 2013 über 150 entstanden sind. Sie fanden bisher in Städten wie Zürich, Berlin, Shanghai, Hong Kong, Hannover, Belgrad und anderen statt. Es sind kleine, unscheinbare Eingriffe, die darin bestehen, eine vorgefundene Unordnung zu ordnen oder kaputte Dinge provisorisch zu reparieren. So hebt er zerknüllte, weggeworfene Plastikhandschuhe auf und legt sie ordentlich nebeneinander. Oder gruppiert achtlos daliegende Karotten zu einem Quadrat. Eine Fotografie dokumentiert die temporäre Ordnung, die früher oder später wieder in Unordnung verfällt. Durch den sorgsamen Eingriff in ihr Erscheinungsbild, verleiht Krusche den Objekten eine skulpturale Wirkung, die vom Passanten nun vielleicht mit Verwunderung wahrgenommen wird. Dem achtlos Weggeworfenen wird durch die entstandene Ordnung ein neuer Wert beigemessen. Aber auch die Vergeblichkeit, das zwangsläufige Scheitern in seiner Handlung interessiert Krusche. „Das Scheitern gehört dazu. Der Kosmos befindet sich in einem entropischen Zustand, es geht immer in Richtung Unordnung. Auch unser Körper. Irgendwann ist er so unordentlich, dass er stirbt. Für diese Handschuhe bringt mein Eingriff für einen kurzen Moment Ordnung (Neg-Entropie) in ihr Dasein. Angesichts der Probleme auf der Welt ist das Ganze aber absolut vergeblich. Man kann es als symbolischen Akt lesen. Ich kann nicht die Millionen Tonnen von Plastikmüll aus dem Meer fischen, aber ich kann da wo ich lebe, ein bisschen Ordnung schaffen. Und wenn das dann als vergeblich wirkt, ist das egal. Es geht um die Intention.“ (Abb.3+4)
Spurensicherung oder dem Unbeachteten Beachtung schenken
Das Projekt, das Jürgen Krusche in den Kunstkästen zeigt, heisst „Spurensicherung“ und ist ein work in progress. Auf seinen Streifzügen fallen ihm unvermittelt kleine Objekte auf, die er fotografiert, sammelt und dokumentiert. In vier Jahren sind 150 Objekte zusammengekommen – das ist nicht viel. Was macht ein Objekt zum sicherungswürdigen Gegenstand? „Es sind Fragmente von grösseren Dingen, die einfach liegen bleiben, meist nur millimetergross. Manchmal sehe ich etwas, halte inne, gehe zurück, fotografiere und nehme das Teilchen mit.“ Das Suchen interessiert Jürgen Krusche dezidiert nicht. Er hat es auch noch nie gemacht – ausser hier in Schaffhausen, weil er in den Kunstkästen Gegenstände aus anderen Städten mit solchen aus Schaffhausen kombinieren möchte. Deshalb begab er sich auf die Suche, die tatsächlich eine wurde – Schaffhausen scheint sehr sauber zu sein. Auf dem Herrenacker wurde Krusche schliesslich fündig: kleine Teilchen, die in den Steinen hängen geblieben waren, erstaunlicherweise fast alle schwarz. Vermutlich fallen sie auf dem farbigen Belag am besten auf. Die Fragmente, die Jürgen Krusche in den verschiedenen Städten sammelt, sind wie archäologische Funde, die immer auch auf die Kultur und ihre Zeit – das 21. Jahrhundert – hinweisen. Krusche will aus diesen gesammelten Objekten keine Kunstwerke gestalten. Es geht ihm darum, die Spuren (Objekte, Fotografien) zu sichern und um den Bezug zur Stadt (Daten, wo und wann er sie gefunden hat). „Ich fokussiere zwar nur dieses Ding, aber dadurch, dass ich es zentriert fotografiere, habe ich immer auch einen kleinen Ausschnitt der Stadt.“ Krusche, der Stadtforscher, bleibt sich treu. (Abb.5)
Jürgen Krusche, Hannover, verschiedene Arbeiten 2016-2019
Abb.1 All belongings of a street sleeper, 2016
Abb.2 Aus der Serie der Platzhalter, 2016
Abb.3 Negentropic Sculpture (Nr.112/1), Hannover, 2016
Abb.4 Negentropic Sculpture (Nr.112/2), Hannover, 2016
VERNISSAGE
Alle Bilder: Martin Ulmer
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